Montag, Mai 29, 2006

Gedankengänge

Ich sitze auf meinem Lieblins-Rücken-Schonsessel, der für das Nachdenken über den Lauf der Welt sehr geeignet ist. Um zu schreiben, musste ich die Katze von meinem Schoß vertreiben. Zur Strafe hat sie ihre Krallen in mein Bein gehauen - jetzt liegt sie auf dem weichesten Kissen auf der Couch, schaut mich missbilligend an und weiß alles besser.

Die Fußballweltmeisterschaftshysterie erreicht ungeahnte Ausmaße und verdrängt alle anderen Themen aus der öffentlichen Diskussion. Mein Desinteresse wandelt sich langsam in Ablehnung um. Wenn ich nicht befürchten müsste, gelyncht zu werden, würde ich meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass wir nicht Weltmeister werden. Da aber anerkannte Fachleute erklären, dass gar kein Zweifel besteht, dass Deutschland Weltmeister wird, muss ich das als Laie akzeptieren.

Wir brauchen uns ja um nichts ernsthafte Sorgen machen - wichtig ist doch nur die Tatsache, dass wir eigentlich schon Weltmeister sind. Die ganze Welt beneidet uns. Selbst der Erzbösewicht Bin Laden kann das jetzt nicht mehr verhindern.


Weitere weniger bedeutsame Nachrichten gibt es natürlich auch. Hartz IV scheint nicht ganz reibungslos zu funktionieren. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich nicht halbiert, sondern ist gestiegen. Ebenso die Zahl der Mitarbeiter der Arbeitsagentur, die Herr Gerster noch halbieren wollte. Jeder Vermittler vermittelt aber immerhin einen Arbeitsplatz pro Monat. Die Hartzreform hat aber den unschätzbaren Verdienst, einen neuen Namen für die neuen Arbeitsämter gefunden zu haben.

Der arme Herr Hartz hat mittlerweile seinen Job bei VW verloren; wenn er nicht ins Gefängnis muss, kann hoffentlich sein Freund Gerhard ihm einen neuen Job bei Gasprom besorgen.

Statt, wie geplant, Geld zu sparen, wird die Reform aber nun so teuer, dass die Maastricht-Kriterien wieder nicht eingehalten werden können - aber nächstes Jahr klappt es, wie in den letzten Jahren, ganz bestimmt!

Ist Dir schon aufgefallen, dass die Wohlfahrtsverbände neuerdings noch mehr jammern als der Bauernverband, der es fertig brachte, wegen der Änderung bei der Gasölverbilligung sich als der Zahlmeister der Nation zu bezeichnen - sicherlich zu Recht, da nur wenig mehr als die Hälfte aus Subventionen besteht. Die Wohlfahrtsverbände klagen, es gäbe immer mehr Arme - aber mir sind Zweifel gekommen, ob es gerechtfertigt ist, jemanden als arm zu bezeichnen, weil er nicht mehr als die Hälfte des Durchschnittseinkommens hat.

Nach dieser Definition wären wir in Bad Windsheim alle arm, wenn Bill Gates hier lebte mit einem Jahreseinkommen von über 250 000 000 Euro (um bei B.G. zu bleiben: Wie bringt der es nur fertig, jede Woche 5 000 000 auszugeben, ich könnte das höchstens 2 Monate aushalten).

Die Jammerei erfolgt jedenfalls auf höchstem Niveau und ich werde den Verdacht nicht los, dass das hauptsächliche Motiv darin besteht, sich selbst noch weiter aufzublähen.

Hast Du von dem Bären gehört? Alle sind begeistert, besonders die Kinder. Ein Teddybär in den bayrischen Alpen - das ist doch richtig schön. Dann verspeiste der hungrige Bär einige Hühner. Davon gibt es sowieso zu viele, weil die Menschen seit der Vogelgrippe keine Brathühner mehr essen. Statt nun dem Bären den bayrischen Verdienstorden zu verleihen, beschloss das Ministerium, er sei eine Bestie und müsse totgeschossen werden. Wenn er sich einen Förster zum Nachtisch genehmigt hätte, wäre es ja verständlich - aber in den Wäldern laufen jede Menge Förster herum und nur ein einziger Bär. Immerhin profitiert der Tourismus davon. Es gibt jetzt einen Boom an Bärenkitsch nach dem Vorbild der Benediktdevotionalen.

Aber das alles ist unwichtig, denn demnächst werden wir Fußballweltmeister. Da kam mir ein furchtbarer Gedanke. Wenn wir dann Weltmeister sind und sich nach einiger Zeit die öffentliche Meinung, die Medien, die Politik und die Talkshows sowie die Stammtische nicht mehr ausschließlich mit Fußball beschäftigen, dann holen uns die alltäglichen Probleme wieder ein – tja, und was dann?

Es gibt eigentlich nur eine praktikable Lösung: Eine neue Weltmeisterschaft muss her – und noch eine, dann noch eine, usw. Themen gibt es genug, man sollte etwas auswählen, worin die Deutschen besonders gut und schwer zu schlagen sind. Wie z.B. die Weltmeisterschaft im Jammern, in dem kompliziertesten Steuersystem, der stursten Bürokratie. Falls die Themen ausgehen, kann man neue Ideen ins Spiel bringen, z.B. Nasebohren oder Tiefspringen mit posthumer Ehrung der Meister.

Kurz - die Zukunft wird wunderbar. Irgendwann ist jeder von uns dann Weltmeister von irgendwas, darauf können wir stolz sein und dann endlich mit Recht sagen: Am deutschen Wesen wird die Welt genesen!

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